Humanismus in Europa: Ausbreitung einer Bewegung

Humanismus in Europa: Ausbreitung einer Bewegung
Humanismus in Europa: Ausbreitung einer Bewegung
 
Frankreich erlebte die ersten Ansätze des Humanismus bereits Anfang des 15. Jahrhunderts dank des päpstlichen Hofes in Avignon. Hier konnte humanistische Bildung zum Erwerb königlicher Ämter dienen, was zu einer Konkurrenz mit dem Geburtsadel führte. Guillaume Budé, der »Erasmus Frankreichs«, arbeitete an der Durchsetzung des humanistischen Erziehungsideals, während Jacques Lefèvre d'Étaples als »Humanista theologizans« bezeichnet wurde, weil er auf der Basis von Texteditionen - vergleichbar mit Marsilio Ficino - für die Verbesserung der Reformation wirkte. 1551 wurde Petrus Ramus an das königliche Kolleg in Paris berufen, um seine rhetorisch-topische Reform der Wissenschaftslehre zu verbreiten, wobei er sich aber auch um Propaganda in eigener Sache in der Schweiz und in Deutschland kümmerte.
 
In den Niederlanden, die damals das heutige Belgien und Luxemburg sowie Teile Deutschlands und Frankreichs umfassten, gründete Papst Martin V. 1425 die Universität Löwen, wo 1517 das dreisprachige »Collegium Trilingue« für Latein, Griechisch und Hebräisch errichtet wurde, an dem Erasmus von Rotterdam und der Spanier Juan Luis Vives lehrten. Nach der konfessionellen Spaltung wurde gegen das katholische Löwen 1575 die protestantische Universität Leiden aufgebaut, die beide zu Hochburgen der Wissenschaft wurden. In Löwen, dessen Universität einen bis nach Prag reichenden Einflussbereich hatte, studierte zum Beispiel der streitbare Kontroverstheologe Kardinal Roberto Bellarmino. Leiden wurde eine führende Universität für norddeutsche Juristen und Naturwissenschaftler. An beiden Universitäten unterrichtete nacheinander Justus Lipsius, der das Christentum mit antik-stoischem Denken verknüpfte. Für die Internationalität der Bildung spricht, dass Vives auf Bitten des Erasmus eine kritische Ausgabe des »Gottestaates« von Augustinus besorgte, die dem englischen KönigHeinrich VIII. gewidmet war, woraufhin er neben seiner Aufgabe als Erzieher an dessen Hof für einige Zeit am »Corpus Christi College« in Oxford lehrte.
 
Spanier waren ebenfalls auf dem Konzil von Konstanz (1414 bis 1417) und dem bedeutenden von Basel-Ferrara-Florenz (1431 bis 1439) gewesen, außerdem pflegten sie Kontakte mit dem Hof der Könige von Aragon in Neapel. Giannozzo Manetti widmete dem spanischen Konquistador Nuño de Guzmán seine Lebensbeschreibung des Sokrates und des (Spaniers!) Seneca.
 
Nach England kamen schon Anfang des 15. Jahrhunderts Lehrer aus Italien. Als einer der ersten - zunächst allerdings außerhalb der Universität - förderte der Herzog Humphrey von Gloucester humanistische Kreise in Oxford. Englische Kleriker hatten in Italien Rechte studiert, Andere studierten dort Medizin. John Colet, Theologe und Schulgründer in London, war mit Ficino befreundet und verfasste unter dem Einfluss Lorenzo Vallas einen Bibelkommentar. Einschneidend waren drei Aufenthalte des Erasmus in England, wo dieser sich besonders mit Thomas Morus befreundete. Morus, Verfasser der »Utopia« (1516), verkörperte wie kein anderer als Politiker und christlicher Denker die englische Version des Humanisten, der zugleich seinem Staat und Herrscher (Heinrich VIII.) wie auch seiner persönlichen Verantwortung gerecht werden muss. Wissenschaft und Bildung standen im England der Renaissance immer auch im Schnittpunkt des politischen Machtkalküls. Auf diesem Hintergrund führte zum Beispiel die unbeugsame Gedankentreue von Morus 1535 zu dessen Enthauptung und Francis Bacon, folgenreicher Propagator empirischer Naturforschung, wurde 1621 durch Intrigenspiel, an dem er selbst allerdings nicht unbeteiligt war, als Lordkanzler gestürzt. Der Hof Elisabeths I., zu dem zum Beispiel der an Platon und Aristoteles geschulte Dichter Philip Sidney gehörte, zog ausländische Gelehrte an, so auch Giordano Bruno, der hier seine italienischen Dialoge veröffentlichte. Andererseits gingen viele Denker nach Holland und Frankreich ins Exil, wie Thomas Hobbes, einer der Theoretiker des Empirismus und des politischen Naturalismus, später dann der Rationalist und Aufklärer John Locke.
 
Auch die Fürstenhöfe im Osten Europas nahmen humanistische Impulse auf. Die ungarischen Könige Siegmund und Matthias I. Corvinus orientierten sich nach Italien, nachdem Johannes Vitéz am Wiener Hof mit dem italienischen humanistischen Stil vertraut wurde. Dessen Neffe Janus Pannonius, der bedeutendste ungarische Renaissancedichter, wurde nach Ferrara geschickt, um bei dem griechischen Sprachkenner Guarino von Verona zu studieren. Matthias Corvinus, dessen berühmte »Bibliotheca Corviniana« später in alle Welt zerstreut wurde, bestellte in Florenz Prachthandschriften unter anderem mit den Werken Ficinos. Unter der litauisch-polnischen Dynastie der Jagiellonen wurde die 1364 in Krakau gegründete »Jagiellonische Universität« zum Mittelpunkt des Humanismus in Polen.
 
Nach der Schlacht gegen die Türken bei Mohács (1526) wurde Ungarn in drei Teile geteilt, einen türkischen, östlich davon ein weitgehend selbstständiges Siebenbürgen, während der westliche Teil unter habsburgischen Einfluss geriet. Siebenbürgen wurde zu einem Zufluchtsgebiet der Antitrinitarier, die dort lebenden Sachsen wurden unter Führung des Pädagogen und Historikers Johannes Honterus in Kronstadt lutherische, die Ungarn kalvinistische Protestanten. Auf dem Landtag von Torda (1557) wurden alle vier christlichen Bekenntnisse für gleichberechtigt erklärt, der erste Fall politisch-religiöser Toleranz in Europa. Mit dem Beginn der Reformation orientierten sich die ungarischen wie überhaupt die Intellektuellen Mittel- und Osteuropas nach Wittenberg. Das Gleiche gilt für polnische und böhmische Adlige und Patrizier, die zum Studium nach Italien, Deutschland und England reisten. Der Habsburger Kaiser Rudolf II. holte Humanisten, Philosophen und Naturforscher wie Johannes Kepler, Bruno und Tycho Brahe an seinen Hof nach Prag, das damit erneut zu einem Kulturzentrum wurde.
 
Schon Kaiser Karl IV. hatte Petrarca in diplomatischem Auftrag in Prag empfangen. Später brachte er seinen Kanzler Johannes von Neumarkt zu Verhandlungen nach Mantua mit, wo dieser den humanistischen Dichter kennen lernte und zum wichtigen Mittler der italienischen Renaissance für Deutschland wurde. Mit Karl IV. begann der frühe Humanismus in Deutschland, der ein Fürstenhumanismus wurde und in Kaiser Maximilian I. in Wien seinen größten Förderer hatte.
 
Auch Ennea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. und Freund Nikolaus' von Kues war auf dem Konzil in Basel gewesen und hatte dort Kontakt mit dem Habsburger Hof aufgenommen, wo er zeitweise als Kanzler tätig war. Durch den Ruhm der italienischen Juristenfakultäten, vor allem in Pavia und Bologna, brachten zahlreiche Kleriker und Laien die Ideen humanistischer Ausbildung nach Deutschland und pflanzten sie in den Universitäten ein, so in Heidelberg, Erfurt, Basel und Tübingen. Sie sollten später zu Hochburgen der protestantischen Reformation werden, nicht zuletzt, weil durch Philipp Melanchthon die lutherische Lehre in ein humanistisches Studium integriert wurde, das die Beherrschung der Sprachen mit persönlicher Frömmigkeit vereinte. Reichsfreie Städte wie Straßburg, Augsburg oder Nürnberg gründeten humanistisch aufgebaute Stadtschulen für die künftigen Patrizier. Reisen und Briefwechsel mit Humanisten in Italien und anderen Ländern waren selbstverständlich.
 
Für die Philosophie im engeren Sinne führte die europäische Perspektive des Humanismus nicht immer zu bedeutenden Ergebnissen, denn die Renaissance der antiken Quellen, das anthropozentrische, moralische und politische Programm, und erst recht die »Studia humanitatis« als Grundausbildung waren vielseitig interpretierbar, je nach den örtlichen Bedürfnissen und Interessen. In Deutschland scheint sich neben der europäischen Blickweite zugleich eine patriotische Komponente entwickelt zu haben, die auf die Eigenständigkeit der Kultur diesseits der Alpen achtete und einer verengten Geschichtssicht Vorschub leistete. (Auf diesem Hintergrund ließ etwa Kaiser Maximilian I. aus Machtbestreben heraus seine Genealogie fälschen.) Desgleichen konnte der Sprachhumanismus trotz seiner anfänglich hohen Ansprüche an die universale Bildung zu bloßer Philologie und Grammatikunterricht verkommen. Andererseits wäre der Siegeszug der Reformation in Deutschland nicht denkbar gewesen, wenn die theologischen Doktrinen leer geblieben und nicht den Menschen angesprochen hätten, ganz abgesehen von neuplatonischen Elementen der philosophischen Theologie eines Melanchthon, der Bibelkritik eines Erasmus von Rotterdam oder dem differenzierteren Verständnis der theologischen Tradition von den frühen Kirchenvätern bis zur Scholastik. Unter dem Informationsschub der neuen Bildungsquellen, vereint mit dem neuen Medium Buch, wurde Wissen zu einem Problem der Ordnung, die man selbst schaffen muss, und die ewige Wahrheit der christlichen Offenbarung erwies sich als geschichtlich entwickelte Botschaft Gottes an den Menschen.
 
Hatten die Universitäten, soweit sie noch aus dem Mittelalter stammten, den Humanismus mit Verzögerung zur Kenntnis genommen, wurden sie im Laufe des 16. Jahrhunderts zu den wichtigsten Trägerinnen des neuzeitlichen Denkens. Grundsätzlich gab es zwei Universitätsmodelle: das der Universität Bologna, das aus Fakultäten bestand, von denen Jurisprudenz und Medizin die wichtigsten waren, und das auch in Deutschland übernommen wurde, sowie das Pariser Modell mit einem Schwerpunkt in der Theologie, das aus einem Verband von Kollegien bestand, die durchaus verschiedene Richtungen vertreten konnten, und an dem die Zusammengehörigkeit von Studierenden und Lehrenden enger geknüpft war. Das Pariser Modell bestimmte auch die englischen Universitäten und gelangte von da in die Vereinigten Staaten von Amerika. In beiden Typen wurden humanistische Bildungsinhalte übernommen, hauptsächlich allerdings in der Propädeutik, das heißt vorwiegend dem Lateinunterricht, der nun mit den »Studia humanitatis« gleichbedeutend wurde, ohne dass die höheren Fakultäten in diese Neubelebung notwendig einbezogen waren. Auch die Jesuiten folgten dem Pariser Modell, indem sie im Laufe des 16. Jahrhunderts in allen katholischen Gebieten Europas Kollegien übernahmen oder Universitäten gründeten, in denen Ordensleute die »Humaniora« (Philosophie und Theologie) unterrichteten. Protestanten gründeten ihrerseits Schulen, übernahmen Klosterschulen (zum Beispiel in Maulbronn) oder gründeten Universitäten, z. B. Altdorf, Helmstedt und Herborn, deren Kanzler in der Regel der Landesherr war. Damit wurde allenthalben die moderne, aus dem Humanismus hervorgegangene Bildung zur öffentlichen Institution, von der praktisch alle Gelehrten ihre Kulturtechniken und ihr Grundwissen bezogen. Vergleichbar mit den Bettelorden des Mittelalters, aber in enorm gesteigerter Menge und Intensität, war der Humanismus eine gesamteuropäische Bewegung, welche die Einheit, die Mobilität und die Vielfalt Europas verkörperte.
 
Prof. Dr. Paul Richard Blum
 
 
Burkhardt, Johannes: Frühe Neuzeit. 16.—18. Jahrhundert. Königstein im Taunus 1985.
 Buck, August: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg im Breisgau u. a. 1987.
 Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. 3 Bände. München 1-21992—95.
 Mieck, Ilja: Europäische Geschichte der frühen Neuzeit. Eine Einführung. Stuttgart u. a. 51994.

Universal-Lexikon. 2012.

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